· 

Das Blau ist nicht entscheidend

Romy Hausmann hat einen neuen Thriller geschrieben, der ein Roman über eine fiese Krankheit ist, die sich längst in unseren Alltag geschlichen hat. Musik gibt es auch dazu – für davor, danach oder zum Buch dazu. Ich durfte vor Veröffentlichung lesen und reinhören. Ich finde ich das wie folgt.

 

Von Michael Agricola

 


Theo (und die anderen)

 

 

Die Fäden immer in der Hand behalten - wer will das nicht? Auch Theo Nowak hat sein Leben nach diesem Anspruch gestaltet. Als erfolgreicher Arzt hatte er im Beruf und in seiner Vorzeige-Familie stets die Fäden in der Hand. Bis sie ihm plötzlich entglitten. Das begann sicher nicht erst mit dem plötzlichen Verschwinden seiner ältesten Tochter Julie, es nahm durch dieses traumatische Ereignis und alles, was folgte, jedoch rasant an Fahrt auf.

 

 

Zwanzig Jahre danach ist ihm nur seine zweite Tochter Sophia geblieben – und seine oft trügerischen Erinnerungen. Theo leidet inzwischen an Demenz und bewegt sich dadurch in verschiedenen, sich immer wieder überlagernden Welten. Dennoch soll und will er helfen, den „Cold Case“ aufzuwärmen und ist überzeugt, seine Tochter irgendwann wieder in die Arme schließen zu können. Das ist Theos größter Wunsch – und es ist das Interesse des True-Crime-Podcast-Duos Liv und Phil.

 

 

Diese Beiden stochern noch einmal tief in der Familiengeschichte herum – durchaus eigennützig und zumindest anfangs mehr sensationsheischend als seriös. Sie nehmen alle unter die Lupe, die damals unter Verdacht gerieten. Doch je mehr Liv, Phil und Theo in der Vergangenheit graben, desto größer werden die Fragezeichen in der Geschichte von Julie. Was war wahr und was nicht, und wer war es nun und wo ist Julie? Lebt sie am Ende noch?   

 

 

Romy

 

 

Nur wer seine Romanwelt souverän zu verwalten weiß, kann auch mit dem Publikum spielen, es ablenken und verwirren, wie es sich für einen rätselhaften Kriminalfall gehört – oder Nebenthemen aufziehen, die am Ende für das Buch genauso so wichtig werden wie für die Handlung und die Hauptfigur. Romy Hausmann gelingt das vortrefflich.

 

Das merkt man allerdings nicht von der ersten Seite an. Im Gegenteil.

 

Nach den ersten Seiten wusste ich weder, worauf das Buch hinauswollte, noch, ob ich die nach und nach eingeführten und noch recht grob geschnitzten Akteure ein ganzes Buch lang so akzeptieren können würde. Der Feinschliff der Figuren folgt glücklicherweise noch, Kapitel für Kapitel fliegen später die Hobelspäne und die Charaktere darunter kommen besser zum Vorschein. Und auch das ergibt Sinn, weil es den Plot geschmeidig für Wendungen und die Lösung schön bedeckt hält.

 

 

Der Dementor

 

 

Damit das gelingt, dafür wagt Romy Hausmann gerade zu Beginn des Buches einiges. Da wähnte ich mich schon mal kurz davor, einen Leserbrief an den Verlag oder die Autorin zu verfassen, wegen der diversen ärgerlichen Tippfehler im Manuskript. Diese sind aber natürlich nicht der Nachlässigkeit im Lektorat geschuldet, sondern werden als Stilmittel genutzt, um die Krankheit Demenz fassbar zu machen – mit all ihren bedrückenden, aber auch den skurrilen und unfreiwillig komischen Seiten. Dazu gehören Theos Worterfindungen, sein stetes Suchen nach Worten und das Klammern an Gedanken, die er jeden Moment zu verlieren droht – aber auch die Paranoia und die ungeduldige Grobheit, mit der er andere wegstößt, wenn sich die hellen und dunklen Momente überlagern.

 

 

Man leidet unwillkürlich mit bei Theos Kampf um sein Leben und seine Erinnerungen, bei seinem verzweifelten Klammern an jede Spur zur verlorenen Tochter, bei den Wahnvorstellungen, die ihn immer wieder einholen und seinen Geist benebeln wie die Dementoren ihre Opfer bei Harry Potter.

 

 

Der Plan, diese vielschichtige Krankheit als eigenständiges Stilmittel in einen Krimi einzubetten und nicht nur als Mittel zum Zweck zu benutzen, ist ambitioniert. Aus meiner Sicht hat sich das Wagnis aber gelohnt. Denn so trägt es den logischen Fortgang der Geschichte fast von alleine.

 

 

Martin

 

 

Hört man in die Begleit-Musik gleichen Namens rein, wird schnell deutlich: Da spielt sich einer für die Verfilmung von „Himmelerdenblau“ warm. Martin Bechler und sein Projekt Fortuna Ehrenfeld verfolge ich schon viele Jahre und bin glühender Fan von dieser einzigartigen Melange aus gefühlvoll getragenem Songwriting und leisen Lebensminiaturen auf der einen sowie überdrehten Texten und wildem Indiepop ohne Klischee und Tabu auf der anderen Seite.

 

 

Auch der Kölner Tonfachmann hält die Fäden seiner Projekte stets selbst in der Hand. Auf diese Weise kann er sich auch manches erlauben, was ein fremder Produzent vielleicht gar nicht erst zugelassen hätte. Aber wer nicht wagt, bringt nichts Überraschendes zustande. Das Attribut trifft auch auf die musikalische Seite von „Himmelerdenblau“ zu.

 

Martin Bechler nimmt seine Lieder, verändert sie – völlig uneitel – und macht sie so zu den passenden Kumpanen, die die „Hörer-Leser“ sanft auf ihrer Reise durch diesen Krimi begleiten.

 

Das ist für Fortuna-Ehrenfeld-Fans mitunter nicht ganz konfliktlos. Ich zum Beispiel nehme ein Stückchen übel, dass auf diese Weise die Vermissen-Abschieds-Hymne „Ich seh‘ dich überall“ mit ein paar umgetexteten Zeilen ihrer bisherigen Bedeutung beraubt und für das Thema Demenz umetikettiert wird.

 

 

Das ist aber eine persönliche Befindlichkeit. Denn wahr ist auch: Ein Gänsehaut-Lied bleibt es, und es ist stimmig. Und wer hätte sonst das Recht zum Recyceln, aufbrechen, neu zusammensetzen seiner Kunst – wenn nicht der Künstler selbst?

 

 

Romy

 

 

Ehrlich gesagt habe ich vorher noch keinen Krimi von Romy Hausmann gelesen. Ich habe es mir auch versagt, bevor ich „Himmelerdenblau“ angefangen habe – um nicht sofort ins Vergleichen zu kommen. Sie ist erfolgreich, sie ist sehr gut in dem, was sie tut, das steht außer Frage. Schon der Debütroman „Liebes Kind“ eroberte Platz 1 der SPIEGEL-Bestsellerliste. Die darauf basierende Netflix-Serie wurde im vergangenen November gar mit dem International Emmy Award ausgezeichnet. Die nachfolgenden Thriller „Marta schläft“ und „Perfect Day“ waren erfolgreich, genauso wie ihr Sachbuch „True Crime. Der Abgrund in dir“.

 

 

Einen True-Crime-Podcast hat sie im Übrigen auch, zusammen mit dem bekannten Kriminalbiologen Dr. Mark Benecke. Gibt es also Ähnlichkeiten mit Liv und Phil? Leser wissen bald mehr.

 

 

Martin

 

 

Dass er sich privat und künstlerisch mit Romy Hausmann prima versteht, ließ sich bereits an dem ersten gemeinsamen Buch-Musik-Projekt „Princess Standard“ ablesen, zu dem Hausmann die Gedichte und Bechler die Musik beigesteuert hat. Schon da griff der Kölner Musiker auf das Repertoire seiner Band zurück – und passte an, wo es Not tat.

 

 

Der Soundtrack zu Himmelerdenblau ist ganz ähnlich gestrickt. Ein paar Fortuna-Songs, darunter „Brüsseler Platz“ und „Die Umarmung der Magneten“, bei Bedarf textlich leicht angepasst und im Fall von „Drei Tage Regen“ mit Romy Hausmanns Stimme. Die Melodie von „Zwei Himmel“ rundet das Finale ab. Dazu kommen effektvoll, aber zurückhaltend eingesetzte Instrumentals, die Szenen des Buches aufgreifen oder die Hauptpersonen akustisch charakterisieren.

 

 

Dazwischen stehen Mini-Hörspiele: kurze, von der Autorin gelesene Abschnitte aus dem Buch, die nicht vorwegnehmen, sondern eher neugierig machen – wenn man die Musik vor dem Buch hört, wie ich es getan habe.

 

Schließlich gibt es noch zwei, drei Stücke, die allein für sich stehen und auch als „Singles“ vorab bei den Streamingdiensten veröffentlicht wurden. Das Titelstück ist eine typische Fortuna-Ehrenfeld-Ballade, die das Thema Demenz lyrisch treffend umschreibt.

Eine geschickt verfremdete Version des berühmten Blumenwalzers und das hypnotische „Blood, Sweat and Fears“ fangen dagegen sehr schöne widersprüchliche Stimmungen und Gefühle ein. So in etwa könnte es im Kopf klingen, wenn Schatten und Licht im Kopf um die Hoheit ringen. 

 

 

Das alles ist eine stimmige Mischung, zumindest für mich als geübten Fortuna-Ehrenfeld-Hörer. Ich bin gespannt, wie das Album bei anderen Zielgruppen, bei Hausmann-Fans oder anderen Krimilesern ankommt.

 

 

Romy

 

 

Was an „Himmelerdenblau“ immer wieder auffällt, ist die chirurgisch präzise geführte Struktur der Geschichte, die (weitgehend) chronologisch aus den Perspektiven der Figuren erzählt wird. Die Erzählstränge sind akkurat und ohne Brüche, die verschiedenen Erzählstimmen sind natürlich, sie entsprechen den Charakteren, die Romy Hausmann zeichnet.

 

 

Und die Autorin gibt im Laufe der Handlung so geschickt immer genau so viel mehr an Details über ihre Figuren preis, dass die Lösung des Falls näher zu rücken scheint, aber bis zum Schluss doch stets wieder im Nebel der Ungewissheit verschwindet.

 

 

Das Buch ist somit quasi eine „Himmelerdenblaupause“ für einen richtig gut aufgebauten und bis zum Ende funktionierenden Krimi. 

 

 

Und warum? Weil auch Romy Hausmann die Fäden immer in der Hand hält. Entlang von Figuren, Orten und Räumen führt sie Leserin und Leser so, dass die Erzählstränge nicht zu Stolperfallen werden. Sonst liefe sie bei diesem Geflecht Gefahr, Luftmaschen in die Logik der Handlungen und Figuren zu stricken, die Story bekäme unschöne Unebenheiten und Verzerrungen. Und brächte den Erzählenden unter Umständen selbst ins Straucheln. Dass das nicht der Fall ist, ist kein Zufall und kein Glück, sondern gutes Handwerk der Autorin.

 

 

Es gibt nur eins, was mir an dem Buch ein wenig zu glatt und zu skizzenhaft bleibt: Die Orte der Handlung. Schauplatz ist der Großraum Berlin, aber die Handlung könnte auch überall sonst spielen. Die Namen der Protagonisten sind so gewählt, dass sie und die ganze Geschichte genauso in Minnesota oder Kalifornien funktionieren würden. Der Gedanke daran hat mich beim Lesen tatsächlich immer mal wieder irregeführt. Liegt natürlich an mir. Aber ob gewollt oder nicht – einer Verfilmung des Stoffs würde das jedenfalls schon mal nicht im Weg stehen.

 

 

Romy Hausmann: Himmelerdenblau. Thriller, Hardcover Penguin Verlag, 450 Seiten.

 

Fortuna Ehrenfeld: Himmelerdenblau. CD/Vinyl. Tonproduktion Records